Interview
Der stille Vormarsch der neuen Fertigungsindustrie
03 Januar 2022
Autoproduktion in Flandern? Ja, das ist immer noch möglich. Die hochmoderne und vollständig digital gesteuerte Fabrik von Addax Motors im Herzen Westflanderns zeigt das Gesicht der neuen Fertigungsindustrie in Westeuropa: digital gesteuert, äußerst flexibel und besonders kosteneffizient.
Sie sind über die gesamte hochmoderne Produktionshalle verteilt, in allen möglichen Farben und mit verschiedenen Veredelungsgraden. Mit offenem oder geschlossenem Aufbau, mit Kühlfach oder mit großem Rollladen, wir haben sogar einen mit Schneepflug vorne gesehen. Der allererste vollelektrische Lieferwagen aus Belgien.
Auch ganz individuell, je nach den spezifischen Bedürfnissen des Kunden", sagt Jean-Charles Carrette stolz. Er ist der Gründer und Geschäftsführer von Addax Motors, einem Produktionsunternehmen, das vor knapp vier Jahren in Deerlijk in Westflandern das Licht der Welt erblickte. Im Jahr 2018 lief hier der erste elektrische Lieferwagen vom Band, und in diesem Jahr wird bereits eine Jahresproduktion von mehreren hundert Fahrzeugen angestrebt. Listenpreis? Rund 30.000 Euro. Addax selbst wächst schnell: Das Unternehmen hat bereits 36 Mitarbeiter - jeder vierte ist ein Entwickler oder Forscher - und plant, bald eine zweite Produktionslinie zu eröffnen.
Als wir vor ein paar Jahren unseren offiziellen Antrag auf Anerkennung als Automobilhersteller bei der Bundesregierung einreichten, war man etwas überrascht", erinnert sich Carrette. Das Image der verarbeitenden Industrie in Flandern war lange Zeit nicht klar", bestätigt Dirk Torfs, CEO von Flanders Make. Seine Organisation beschäftigt etwa 700 Forscher, die - mit starker finanzieller Unterstützung der flämischen Regierung - die Bedürfnisse und Kompetenzen der neuen Fertigungsindustrie in unserem Land erforschen.
Vor zehn Jahren schien die Branche noch am seidenen Faden zu hängen, doch in den letzten Jahren hat sich das Bild allmählich gewandelt. Nachdem viele Produktionsunternehmen Flandern jahrzehntelang auf der Suche nach billigen Arbeitskräften verlassen hatten, hat sich die verarbeitende Industrie in den letzten zehn Jahren hier teilweise neu erfunden. Mit viel Aufmerksamkeit für Innovation und Digitalisierung. Während sich Fertigungsunternehmen traditionell auf die Verbesserung physischer Komponenten konzentrierten, werden sie sich im Jahr 2021 zunehmend durch weniger sichtbare digitale Innovationen auszeichnen. Als wir 2017 zum ersten Mal die Innovationsbudgets in unserer flämischen Fertigungsindustrie untersuchten, lagen wir hinter dem weltweiten Durchschnitt zurück. Heute liegen wir manchmal sogar leicht darüber.
Das bedeutet sowohl das weitere Wachstum wichtiger Akteure in Flandern - man denke an Picanol oder Vandewiele - als auch die Rückführung der Produktion nach Flandern. Letzteres geschieht freilich vorerst in einem eher bescheidenen Umfang. Die reine Klebebandproduktion in sehr großen Stückzahlen wird es wohl nie wieder geben, aber die Produktion von kleinen, sehr flexiblen Serien hat in Flandern durchaus eine Zukunft. Die wirklich neue Zukunft sieht meiner Meinung nach eher so aus: Heute baue ich meine Produktion hier, und deshalb brauchen wir sie nicht mehr in Billiglohnländer auszulagern.
Der Volvo Gent ist bereits ein gutes Beispiel dafür. Zunächst wurde das Werk mit der Produktion einiger brandneuer Elektromodelle beauftragt, und jetzt wird auch laut über eine mögliche Batteriefabrik in Gent nachgedacht. Ging man vor einigen Jahren noch mehr oder weniger davon aus, dass die Zukunft der Fertigungsindustrie fast ausschließlich aus Maschinen - ohne menschliches Zutun - bestehen würde, so weiß man es heute besser.
Wir müssen uns wieder auf Fabriken mit Menschen konzentrieren. Dirk Torfs: "Nur so können wir sehr flexibel auf die Anforderungen der Kunden aus allen möglichen Branchen reagieren, die auch selbst schneller reagieren wollen. Und die bei Bedarf auch in sehr kleinen Serien produzieren können. Die neue Fertigungsindustrie konzentriert sich daher nicht nur auf die Produktinnovation, sondern auch auf die Produktionsinnovation. Lange und unsichere Lieferketten stehen im Widerspruch dazu. Paradoxerweise könnten Digitalisierung und Robotisierung letztendlich mehr Produktionsarbeitsplätze nach Flandern bringen. Einerseits machen wir die Produktion billiger, indem wir so viele Prozesse wie möglich automatisieren, andererseits machen wir sie intelligenter und qualitativ hochwertiger, indem wir, wo nötig, gut ausgebildete Menschen aus Fleisch und Blut einsetzen.
in Abhängigkeit von den spezifischen Bedürfnissen des Kunden
MODELL DER FLEXIBILITÄT
Genau diese Strategie hat es Addax ermöglicht, eine neue Autofabrik in der unansehnlichen Stadt Deerlijk zu errichten. Was die manuelle Arbeit betrifft, so handelt es sich um ein reines Montagewerk", räumt Jean-Charles Carrette ein. Die technische Komplexität überlassen wir so weit wie möglich den Lieferanten von Hightech-Teilen. Konkret heißt das: Für jedes Elektrofahrzeug, das hier abfährt, werden nicht mehr als 35 Arbeitsstunden benötigt. Das ist sehr wenig, so dass wir sehr effizient arbeiten. Dies ist vor allem der vollständig digitalen Steuerung der Produktionslinie zu verdanken: Unsere Mitarbeiter erhalten alle Anweisungen über einen Bildschirm an ihrem Arbeitsplatz und alles wird in der Cloud verwaltet.
Gleichzeitig ist Addax auch ein Musterbeispiel an Flexibilität. Mit seinen elektrischen Lieferfahrzeugen zielt das Unternehmen auf unterschiedliche Märkte, die von Städten und Gemeinden über Vergnügungsparks und Industriekunden bis hin zu Supermärkten und sogenannten Last-Mile-Anwendungen reichen. Die allerletzte Stufe zum Endverbraucher, zum Beispiel beim Paketversand.
Jeder Transporter wird je nach Einsatzzweck individuell angepasst. Also keine Serie von zweitausend identischen Fahrzeugen, die vom Band laufen. Damit scheinen auch zwei der wichtigsten Bedingungen erfüllt zu sein, die "neue" Produktionsunternehmen in Flandern im Jahr 2021 erfüllen müssen, um trotz des ewigen Lohnkostennachteils ausreichend rentabel zu sein. Teure manuelle Arbeit wird auf ein absolutes Minimum beschränkt, die Flexibilität gegenüber dem Kunden und bei der Fertigstellung des Produkts wird maximiert.
MADE IN BELGIUM ALS MARKETINGARGUMENT
Als die ersten Pläne das Zeichenbrett verließen, war Carrette mehr oder weniger sicher, dass der neue Elektro-Lieferwagen in seinem Land vom sprichwörtlichen Fließband rollen würde. Ein solches Elektrofahrzeug setzt sich sowohl aus Kauf- als auch aus Produktionsteilen zusammen. Die Kaufteile sind sehr spezifisch, und es gibt weltweit nur eine Handvoll Hersteller, so dass man als Autohersteller eigentlich nur wenig Einfluss darauf hat.
Bei den Produktionsteilen, die hauptsächlich für den Bau des Fahrgestells und der Karosserie verwendet werden, handelt es sich in unserem Fall um Teile aus Stahl, Aluminium, Glas oder Kunststoff. Deshalb wollten wir so viel wie möglich mit belgischen Lieferanten zusammenarbeiten. Schließlich ist es in der Entstehungsphase eines brandneuen Produkts viel einfacher und bequemer, wenn Ihre Zulieferer gleich um die Ecke sind, und Sie können sich viel schneller umstellen und anpassen, als wenn Sie auf neue Teile, beispielsweise aus China, warten müssen.
Auch die industrielle Produktion eines solchen Prototyps wird eher hier in Westeuropa erfolgen als in Fernost oder Osteuropa. Es stimmt, dass die Produktionskosten dort oft viel niedriger sind, aber es spielen auch andere Faktoren eine Rolle. Mit diesem Produkt schreiben wir auch eine neue, nachhaltige Geschichte. Schon aus diesem Grund wäre es seltsam, damit nach China zu gehen. Deshalb haben wir zunächst bei einigen ehemaligen Zulieferern von Ford Genk angeklopft: Könnten sie uns zeigen, wie man ein solches Auto zusammenbaut?
Ursprünglich war unsere Produktion noch in Genk, aber nach zwei Jahren haben wir sie hierher verlegt. Eben weil wir festgestellt haben, dass ein sehr kurzer Draht zwischen den Ingenieuren und der Produktion einfach einen großen Mehrwert bietet. Ein solches Modell ermöglicht es uns, sehr schnell auf sich ändernde Marktanforderungen zu reagieren. Die volldigitale Steuerung der Produktion macht den gesamten Produktionsprozess zudem wesentlich kosteneffizienter. Das ist wahrscheinlich einer der größten Unterschiede im Vergleich zur industriellen Produktion vor einigen Jahrzehnten.
Wir können jetzt Autos in unserem eigenen Land zu relativ niedrigen Arbeitskosten herstellen. Darüber hinaus werden unsere Fahrzeuge vollständig mit IoT-Technologie (Internet of Things, FMI) gebaut, so dass wir einen sehr zugänglichen Kundendienst ab Werk gewährleisten können. Wir brauchen dafür kein extrem teures Netz von lokalen Händlern mehr.
Nicht zuletzt haben sich die makroökonomischen Rahmenbedingungen dramatisch verändert und sind nicht mehr mit denen von vor zwei Jahrzehnten vergleichbar. Während die westeuropäischen Automobilhersteller noch massenhaft in relativ nahe gelegene Niedriglohnländer wie die Slowakei oder Rumänien exportierten, ist dies nicht mehr der Fall. Selbst China ist nicht mehr wirklich billig. Man muss also seine Produktion immer weiter nach außen verlagern, verliert dabei aber immer mehr an Flexibilität", sagt Carrette. Für einen innovativen Herausforderer wie uns ist Letzteres einfach keine Option. Es ist auch kein Zufall, dass wir heute keine asiatischen Konkurrenten haben, während wir es mit einer Handvoll europäischer Wettbewerber zu tun haben, die auf die gleichen Nischenmärkte abzielen.
Und seien wir einmal chauvinistisch: Das Label Made in Belgium auf unseren Elektrotransportern ist heute auch ein starkes Marketing- und Verkaufsargument. Es steht für technische Qualität und Langlebigkeit.
Knappheit an Computerchips
Natürlich macht eine Schwalbe noch keinen Frühling. Das Konzept des Reshoring - also der Rückverlagerung von Industrie aus Niedriglohnländern beispielsweise nach Westeuropa oder in die USA - ist seit ein paar Jahren in aller Regelmäßigkeit zu hören. Die Zahl der großen Unternehmen, die diesen Schritt tatsächlich vollzogen haben, ist jedoch relativ gering. Der Schuhgigant Adidas, ein Unternehmen, das seine gesamte Produktion jahrelang in Asien konzentriert hatte, eröffnete 2016 unerwartet mehrere neue Fabriken in Deutschland und den USA.
Diese so genannten Speed Factories waren weitgehend automatisiert und mussten vor allem in der Lage sein, sehr schnell auf die allerneuesten und sich sehr schnell ändernden Markttrends zu reagieren und diese somit zu beherrschen. Vor zwei Jahren beschloss das Unternehmen jedoch, diese Fabriken in Deutschland wieder zu schließen und die Technologie von nun an in asiatischen Fabriken einzusetzen.
Im eigenen Land hat der Elektronikhersteller ED&A den Schritt gewagt: Er beschloss, seine elektronischen Bauteile für Maschinenbauer wieder im eigenen Land zu produzieren, obwohl die Produktion jahrelang systematisch in Niedriglohnländer ausgelagert worden war. Als wir CEO Gert D'Handschotter vor einigen Jahren dazu befragten, sagte er, dass dieses Modell allmählich an seine Grenzen stößt. Die Zulieferer konnten die geforderte Produktionskapazität nicht immer einhalten, die Qualität ließ manchmal zu wünschen übrig, und auch die oft langen Warte- und Transportzeiten sowie die mangelnde Flexibilität wurden für das Unternehmen zum Problem.
Das letztgenannte Argument stand auch in den letzten anderthalb Jahren im Mittelpunkt des Interesses. Seit dem Ausbruch der Pandemie sind fast alle Wirtschaftszweige mit fehlerhaften Lieferketten konfrontiert. Und auch die Politiker bemerkten allmählich, dass uns bei vielen wichtigen oder strategischen Produkten offenbar die Hände an Produzenten aus Niedriglohnländern gebunden waren. Die derzeitige Chip-Knappheit, von der praktisch alle Wirtschaftsbereiche betroffen sind, ist ein weiteres Beispiel dafür. Kurz vor Ausbruch der Pandemie veröffentlichte auch das Börsenhaus Bank of America eine aufschlussreiche Studie. Sie befragte 3.000 Großunternehmen weltweit: 80 % von ihnen gaben an, dass sie bereits Pläne zur Umgestaltung ihrer eigenen Lieferkette haben.
Es stimmt, dass die massive Verlagerung der Industrieproduktion nach Westeuropa oder in die USA noch nicht stattgefunden hat", betont Robert Boute. Er ist Professor für Operations Management an der Vlerick Business School und beschäftigt sich seit Jahren mit diesem Thema. Er sieht eine mögliche doppelte Erklärung. Einerseits ist es vielleicht noch etwas zu früh, um wirklich von einem massiven Trend zu sprechen, andererseits klammern sich viele große Unternehmen weiterhin mit dem Mut der Verzweiflung an die Idee niedriger asiatischer Arbeitskosten. Auch wenn dies inzwischen weitgehend überholt ist.
Außerdem haben wir in den letzten Monaten festgestellt, dass man als Unternehmen sehr flexibel sein muss. Wenn man weiterhin teilweise von der Produktion in Asien abhängig ist, wird das natürlich immer schwieriger. Dennoch sieht Boute auch in seinem eigenen Land immer mehr Anzeichen dafür, dass die Unternehmen ihre Gewehre wechseln wollen. Große Industrieunternehmen wie Barco oder TVH haben sich inzwischen für die so genannte Dual-Sourcing-Strategie entschieden: Sie suchen auch für strategische Komponenten nach lokalen Lieferanten, um schneller reagieren zu können. Das ist wirklich neu.
Jobs, jobs, jobs
Eine entscheidende Frage in dieser ganzen Debatte: Bringt uns die sogenannte Industrie 4.0 aus rein wirtschaftlicher Sicht wirklich etwas? In dem Wissen, dass sich diese neue Fertigungsindustrie vor allem auf eine maximale Automatisierung konzentrieren wird und dass die Zahl der neuen Arbeitsplätze daher eher begrenzt bleiben wird? Wir wissen heute, dass jede Tätigkeit in der verarbeitenden Industrie auch einen starken Multiplikatoreffekt hat", meint Boute. Ein reiner Produktionsauftrag schafft schnell drei oder vier zusätzliche Arbeitsplätze in den Bereichen Logistik, Wartung oder IT. Genau aus diesem Grund müssen wir in den kommenden Jahren unbedingt weiter in neues Wachstum der verarbeitenden Industrie in Flandern investieren.
Es ist eine Illusion zu glauben, dass die großen Fabriken mit einem enormen Anteil an Handarbeit jemals wieder hierher zurückkehren werden. Aber gerade dank unserer gut ausgebildeten Arbeitskräfte kann sich Flandern wieder zu einem wichtigen Zentrum hochinnovativer Produktion entwickeln". Auch die flämische Regierung scheint die Bedeutung dieses Kurswechsels zu erkennen. Bereits 2016 betonte sie in ihrer "Vision 2050", dass der Übergang zu Industrie 4.0 für Flandern von strategischer Bedeutung ist. Damit änderte sich auch der Diskurs der Regierung, dass die Industrie hier keine Zukunft habe.
Aber natürlich klaffen Theorie und Praxis in diesem Land oft weit auseinander, wie auch Addax erfahren musste, als es Pläne für eine innovative und hochtechnologische Autofabrik in Deerlijk vorstellte. Leider konnten wir für den Bau keine flämischen Investitionszuschüsse in Anspruch nehmen", erklärt Jean-Charles Carrette. VLAIO (Flämische Agentur für Innovation und Unternehmen, FMI) oder Flanders Make stellten Gelder für projektbasierte Innovation sowie für Forschung und Entwicklung zur Verfügung, aber es gab keine staatliche Unterstützung für die wirklich großen Investitionen in die Produktionskapazität.
In gewisser Weise ist das schade. Die Dinge entwickeln sich bei uns so schnell, dass wir unsere Kapazitäten überschritten haben, so dass wir bald eine neue Produktionslinie in Betrieb nehmen müssen. Hoffentlich können wir mit flämischer Investitionshilfe rechnen, so dass wir nicht nach Wallonien oder Frankreich gehen müssen.
Michiels, F. (2021, December). De stille opmars van de nieuwe maakindustrie. Doorbraak, 18-21